ZWISCHEN DEN LEBEN

- Eine Versammlung von Engeln von Dennis J. Balagtas


Diana Peterson, Selbstmordopfer, 36 Jahre alt, erschien vor einer Reihe von elf Engeln. Diese waren zuständig für die Führung der Akten. Als sie so vor ihnen stand, bat man sie höflich, sich zu setzen. Der Hauptengel sagte: »Meine Liebe, wir müssen für die Akten ein paar wichtige Dinge wissen. Als Erstes: Warum wähltest du, dein Leben früher als geplant zu beenden? Und zweitens möchten wir Dich bitten, den Vertrag für dein nächstes Leben vorzubereiten und zu entscheiden, wohin Du als nächstes gehen möchtest.« Diana saß da und fühlte sich irgendwie unreal. »Ich dachte, dass ich in den Himmel komme, wenn ich sterbe«, sagte sie. »Oh nein«, antwortete ein Engel. »Das ist wirklich nur ein Mythos. Es gibt so viele Dinge, die Du lernen musst; wie kannst Du annehmen, dass Du all dies in nur einem Leben schaffen könntest? Nein, wir geben Dir eine ganze Reihe Chancen, die Dinge zu lernen, die Du begreifen willst. Wir haben Dich hierher kommen lassen, damit Du wählen kannst, wann Du gehen und in welche Lebensumstände Du kommen willst.« Diana schnappte nach Luft. Dies war etwas völlig anderes als alles, was man sie jemals gelehrt hatte. »Also ... ääh ... Ich denke, dann erzähle ich euch besser, woher ich komme. Ihr müsst wissen, ich wuchs bei sehr lieblosen Eltern auf. Sie kümmerten sich nicht wirklich um mich oder sprachen mit mir. Normalerweise waren sie mit ihrem eigenen Leben und ihren Freuden beschäftigt. Ich habe mich nicht wirklich von ihnen unterstützt gefühlt. Sie haben mich nie an sich gedrückt. In der Tat habe ich sie nie sich in meiner Gegenwart umarmen oder küssen gesehen. Ich nehme an, dies ist der Grund, warum ich mir selbst gegenüber so kalt und distanziert bin. Außerdem war mein Berufsleben so ausweglos. Ich wusste einfach nicht, was ich werden sollte und versuchte mich in mehreren Jobs. Ich schien zwar genug Fähigkeiten für eine ganz bestimmte Tätigkeit zu haben, aber die wurde nicht sehr gut bezahlt. Das Geld war immer knapp, und ich musste doch zwei Kinder unterstützen. Mein Traumberuf war immer der einer Schauspielerin. Ich hatte auch nicht viele Freunde, nur einen oder zwei. Oft sind sie einfach gegangen, und das war's. Und ich sehe ein wenig sonderbar aus. Manche Leute sagen, ich sei hübsch, aber ich glaube es reicht nicht, um mit den meisten Menschen mitzuhalten. Wisst ihr, ich bin nicht wie die gewöhnlichen Menschen, da ich eine Menge ungewöhnlicher Ideen habe und meine Handlungsweisen nicht wirklich normal sind. Ich mag es, mit mir allein zu sein und nachzudenken. Ich mag es, zu spielen. Ihr seht also, ich passe da nicht wirklich hin. Dazu kommt, dass ich oft krank war. Ich verfügte nicht über allzu viel Energie, war immer müde und musste viel Zeit im Bett verbringen. Es gab Momente, in denen ich sehr gereizt auf meine Kinder reagierte; sie kamen immer in mein Zimmer und unterbrachen mich, wenn ich beim Nachdenken war. Ich glaube, ich war keine gute Mutter, denn ich hatte keinen Spaß daran, Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Oft wusste ich nicht mal, wo sie gerade waren. Ich denke auch nicht wirklich, dass sie sich aus mir etwas machten. Ich bin es auch müde, eine unwichtige Kleinigkeit zu sein, von der die Leute alles haben können, was sie wollen. Ich hatte immer Angst davor, 'nein' zu sagen und fühlte mich dann, als ob ich ein schlechter Mensch sei. So bin ich all dessen müde geworden. Ich dachte: 'Ich will hier nicht mehr leben. Ich gebe es einfach auf, geh in den Himmel und vielleicht kann ich mich dort ausruhen.' Doch das scheint nicht wahr zu sein. Nachdem, was ihr mir gesagt habt, muss ich wieder dort hingehen.« Diana machte eine Atempause. Einer der Engel sagte laut: »Ja, es trifft zu, dass Du zurückgehen musst; doch bevor Du gehst, kannst Du wählen, was immer Du für Dich und dein nächstes Leben willst. Da wir nun wissen, warum Du Dich umgebracht hast und nun hier bist, möchtest Du vielleicht einen neuen Vertrag mit uns machen?« »Du liebe Zeit, ich glaube, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich kannte eine Menge Spanier, die aus großen, einander liebenden Familien kamen. Sie wirkten immer so vergnügt und großzügig. Ich glaube, wenn ich schon zurückgehen muss, dann würde ich gern in einer spanischen Familie leben, vielleicht in Kalifornien. Manchmal habe ich auch schwarze Familien gesehen, die so liebevoll und süß wirkten. Das einzige Problem ist, dass ich nicht unter Vorurteilen leiden möchte, wenn ich mich für eine solche Familie entscheide. In Ordnung, lasst mich sehen - ich möchte nicht allzu hart arbeiten müssen. Entweder möchte ich einen reichen Mann heiraten oder gewandt genug sein, um selbst eine Menge Geld zu verdienen. Ich möchte an den Punkt kommen, wo ich nicht mehr arbeiten muss, wenn ich es nicht will und meinen Beruf wirklich lieben kann. Ich bin es so müde, immer in einer Sackgasse zu sitzen. Ich möchte kreativ sein und das Gefühl haben, durch meinen Beruf etwas zur Welt beitragen zu können. Ich wäre gerne eine nette Persönlichkeit mit vielen Freunden, die von allen gemocht wird. Trotzdem hätte ich gerne Zeit für mich, wenn ich das will; und ich möchte hübsch und schön sein und eine gute Figur haben. Man sollte mich mögen, aber nicht nur wegen meines Aussehens. Ich möchte ebenso von schönem Inneren wie auch Äußeren sein, so dass jeder von mir sagt: 'Sie ist eine wundervolle Person.' Ich glaube, das würde mir sehr gefallen. Ich hätte auch gern eine gute, robuste Gesundheit und möchte mehr mit Leuten zusammen sein.

Oh, da fällt mir noch etwas ein: Ich würde gerne die Menschen lieben. Es scheint mir jetzt, als wenn ich mich nie um andere gekümmert hätte, und ich möchte wirklich für andere da sein. Das Nächste ist, dass ich entweder eine liebevolle Mutter sein oder für eine Zeit lang gar keine Kinder haben möchte. Vielleicht wäre das eine gute Idee, bis ich gelernt habe, eine bessere Mutter zu werden. Wenn ich all die Dinge tue, für die ich mich jetzt entschieden habe, werde ich wohl auch nicht genug Zeit für Kinder haben. Als Letztes möchte ich mich behaupten können. Ich möchte tun, was ich will, ohne dass jemand etwas dagegen hat oder mich dafür verurteilt. Ich möchte frei sein, zu kommen und zu gehen, wie ich will.« »Gut, Diana, das klingt nach einem recht eindrucksvollen Vertrag«, sagte der Engel, »ich denke, wir können all das für Dich arrangieren. Ich habe nur noch eine Frage zum Vertrag. Was möchtest Du in deinem nächsten Leben vollenden?« »Oh«, antwortete Diana. »Meinst Du damit, dass ich selbst entscheiden muss, was ich vollenden will?« »Natürlich«, sagte der Engel, »das ist es, worum es hier geht.« »Also gut, lasst mich überlegen ... die einzige Sache, die mir einfällt, ist zu verstehen, worum es bei der Liebe eigentlich geht. Ich denke, das würde ich gerne zum Abschluss bringen. Nein, eigentlich möchte ich lieber meine Selbstliebe vervollkommnen und lernen, wie ich mir eigenständig genug Freude, Geld und Sicherheit geben kann, so dass ich nicht mehr den Wunsch haben müsste, zu sterben.« »Das klingt hervorragend«, meinte ein anderer Engel. »Ich denke, wir haben nun einen guten Vertrag. In Ordnung, hier ist eine Kopie für dich; die andere geben wir zu unseren Akten.«»Wisst ihr was?« sagte Diana, »einen Moment lang dachte ich, ich käme in die Hölle, weil ich mich selbst umgebracht habe. Jetzt erzählt ihr mir, dass ich nicht in den Himmel komme. Heißt das, ich muss doch in die Hölle?« »Du meine Güte«, antwortete der Engel, »wo hast Du nur diese Geschichten gehört? Es gibt keinen Ort, der Dich bestraft. Wir glauben nicht an Bestrafung und ebenso wenig an Belohnung. Wir glauben nur an die Liebe. Darüber hinaus wissen wir, dass Himmel und Hölle in Dir drin sind. Wenn Du auf eine bestimmte Art denkst, fühlt es sich an wie im Himmel; doch wenn Du dein Leben auf eine andere Weise betrachtest - ich bin sicher, Du selbst kannst uns sagen, dass es wie die Hölle ist.« »Das ist wahr«, bestätigte Diana. »Ich habe nie auf diese Weise darüber nachgedacht. Um festzustellen, ob man im Himmel oder in der Hölle ist, muss man sich bewusst machen, wie man die Dinge sieht. Nur ich selbst kann mich bestrafen oder belohnen.« »Ach ja, vielleicht möchtest Du etwas über deinen letzten Vertrag zu erfahren. Du könntest es sehr interessant finden,« sagte ein weiterer Engel. »Ich hätte nicht gedacht, dass es da einen alten Vertrag gibt.« »Ja, wir würden die gerne etwas über den Vertrag erzählen, den Du abgeschlossen hast, bevor Du in das Leben von Diana Peterson gingst. Zuvor starbst Du 1926 in Italien. Du hattest elf Kinder, und es gab viel harte Arbeit. Du hattest eine sehr große, dicht geschlossene Familie, viele Verwandte und immer gut und genug zu essen. Du warst eine volle, robuste und energiegeladene Frau. Du batest darum, in deinem nächsten Leben Eltern zu bekommen, die Dir die Möglichkeit geben sollten, Dich als geschickte Persönlichkeit zu erfahren, die Dir Freiheit lassen und Dir darin vertrauen, für Dich selbst sorgen zu können. Sie sollten Dich gehen lassen, wohin Du willst, ohne Dir immer über die Schulter zu sehen. Außerdem wolltest Du einen Männerberuf haben. Du wolltest Zeit zum Träumen, Nachdenken und Kreativsein. Du wünschtest wenige Menschen um Dich herum, damit Du Raum zum Atmen hast - nur ein paar Freunde und eine kleine Familie. Du wolltest groß und dünn sein, um nicht laufend zu hören, was für eine schöne Frau, was für eine gute Mutter oder nette Person Du seist. Du wolltest einzigartig sein und herausragen, um - vielleicht wie die Frauen in den Filmen - andersartige Dinge zu tun. Du sagtest auch, dass Du - da Du mit all den Kindern, dem Kochen und Sauberhalten des Haushaltes so hart zu arbeiten hattest - dieses Mal nicht so viel Arbeit zu tun haben wolltest und schlugst vor, vielleicht ein wenig krank sein zu können, so wie die Kameliendame. Du wolltest allein sein können und wünschtest Dir wenige oder gar keine Kinder, um auszuruhen. Wenn Du überhaupt Kinder wolltest, sollten sie unabhängig sein. Auch wünschtest Du dir, etwas damenhafter und ruhiger zu werden, weil Du zuvor eine recht lautstarke Persönlichkeit hattest. Dies waren die Punkte deines letzten Vertrages.« Diana war erstaunt. Zwei kleine Tränen liefen ihre Wangen hinunter. »Mir scheint, ich habe bekommen, was ich wollte. Eltern, die mir Freiraum gaben, mehr Ruhe, nicht so harte Arbeit. Ich war recht kreativ und habe sogar manchmal in Schauspielstücken mitgewirkt. Ich bin so verwirrt - ich habe mich umgebracht, weil ich bekam, was ich wollte!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Nein, nein«, sagte der jüngste Engel freundlich. »Es war die Art, wie Du über Dich in deinem Leben dachtest, nämlich als unglückliche Versagerin, die Dich den Tod wählen ließ.« »Du kannst alle von Dir gewünschten Veränderungen haben«, meinte ein anderer Engel und klopfte Diana auf die Schulter. »Du bist nicht auf ewig verdammt. Du kannst solange immer wieder zurückgehen, bis Du gelernt hast, dass nicht das zählt, was Du hast, sondern was Du bist. Wenn Du Dich selbst und andere wirklich lieben kannst, bist Du im Himmel.«

Plötzlich wurde alles schwarz. Das Nächste, was Diana hörte, war die Stimme des Arztes: »Es ist ein wunderschönes kleines Mädchen, Mrs. Sanchez.« Der Arzt war überrascht, weil das Mädchen nicht weinte.

Abigail antwortete eines Tages auf ein Inserat im „Engel-Anzeiger“. „ENGEL GESUCHT“ stand da, und zwar solche, die willens wären, sich für die Teilnahme an einem großartigen Spiel auf der Erde zu inkarnieren. Und so war der Wortlaut der Anzeige:

ENGEL GESUCHT! Voraussetzung: Erfahrung im Bereich Inkarnation Erwünscht: Bereitschaft zum Reisen Geboten wird die Teilnahme am größten derzeit bekannten Projekt der Jetzt-Zeit. Das Projekt trägt die Bezeichnung „PLANET ERDE“. Bewerbung nur für Fortgeschrittene möglich! (Anfänger zwecklos)

Nun, Abigail war schon einmal auf der Erde gewesen, genau zwei irdische Tage lang. Und so hoffte sie, das sei Qualifikation genug für den Job.

Vor dem eigentlichen Bewerbungsgespräch saß sie im Wartezimmer zusammen mit anderen Engelbewerbern, die alle viel älter waren als sie selbst, und lauschte deren Erzählungen über ihre unterschiedlichen Inkarnations-Erlebnisse auf dem Planeten Erde. Was sie zu hören bekam, ließ ihren Wunsch nur noch umso größer werden, sie wollte unbedingt auch dorthin..

Schließlich war Abigail an der Reihe und wurde hinein gebeten in das Büro des *Personalchefs für Freiwillige Engel*. Der warf nur einen Blick auf diesen winzigen Engel vor ihm und kratzte sich an der geistigen Essenz seines Kinns. „Abigail, Abigail, Abigail ... wie um Himmelswillen bist du nur auf die Idee gekommen, dass diese Position etwas sein könnte für so ein winziges Etwas an Unerfahrenheit wie dich?! Abigail – es handelt sich hierbei um einen sehr schwierigen und knochenharten Auftrag!“ Der *Personalchef für Freiwillige Engel* lächelte auf sie herab, während er sprach.

„Zuerst einmal musst du eine Liste anfertigen mit all den Erfahrungen, die du auf der Erde gewillt bist zu machen, und das muss sorgfältig geplant sein. Vergiss nicht, je härter die Erfahrung ist, desto schneller verläuft dein persönliches Wachstum“, fuhr er dann fort.

„Danach musst du diesen Plan deinem *Engel-Laufbahnberater* zur Überprüfung einreichen. Und falls dein Berater zustimmen sollte, dann musst du losgehen und dir für

jeden einzelnen Teil deines Plans die erforderlichen Teilnehmer zusammensuchen, die Spieler, die Retter in der Not, die Gegner. Viele diese Spieler befinden sich bereits auf dem Planeten Erde, daher muss zunächst Kontakt aufgenommen werden mit ihrer geistigen Essenz hier, damit sie sich mit dem Vertrag einverstanden erklären können“, umriss der Personalchef die Problematik des Falls.

„Abigail, beim letzten Mal bist du nur als Ersatzspieler für jemand anderen eingesprungen, und das auch nur für ganze zwei Tage, und du hast es verabscheut! Wieso also jetzt? Weißt du nicht mehr, als du zurückkamst, wie schrecklich du das alles gefunden hast? Weißt du noch, wie du geschworen hast, du würdest so etwas niemals wieder tun?“ fragte der Personalchef.

„Ich weiß, Sir, aber es fühlt sich so an, als müsste ich es einfach tun, damit ich mehr Erfahrungen sammeln kann und schneller weiterkomme auf meiner Evolutions-Spirale. Ich meine, sehen Sie mich doch an, Sir – ich bin immer noch winzig, und dabei bin ich doch schon so lange hier! Ja natürlich weiß ich, dass es auch andere Möglichkeiten zum Wachstum gibt – aber die sind alle so furchtbar langsam! Bitte nehmen Sie mich, Sir! Ich werde mich selbst bestimmt nicht enttäuschen, wenn Sie es tun!“ beteuerte Abigail ernsthaft.

„Abigail, du weißt, wie schwer es mir schon immer gefallen ist, dir etwas abzuschlagen. Also gut, geh und stelle deine Liste zusammen und mache einen Termin mit deinem Laufbahnberater! Ich rufe ihn an und sage ihm, dass ich einverstanden bin“, gab der Personalchef schließlich nach.

„Vielen Dank, Sir! Ich verspreche Ihnen, sie werden stolz auf mich sein können. Vielen Dank, dass Sie mir die Chance geben, Sir! Ach, und würden Sie bitte dem Schöpfer ausrichten, dass ich mich auch bei Ihm bedanke, Sir?“ Und damit schickte Abigail sich an, den himmlischen Verwaltungstrakt wieder zu verlassen.

„Ich werde es dem Schöpfer ausrichten, Abigail, aber ich bin nicht ganz sicher, ob es wirklich das ist, was der Schöpfer für dich im Sinn hatte, als er dich ins Sein hauchte. Die Blaupause, die er dir mitgab, sieht eigentlich keine solchen Aktivitäten für dich vor!“ Die Stimme des Personalchefs klang ein wenig betrübt, als er das sagte.

„Ich weiß, Sir“, sagte Abigail bittend, „aber dies ist es, was ich wirklich ausprobieren will!“ Und damit verschwand sie endgültig.

Abigail arbeitete und schuftete, bis sie endlich ihre Liste mit den Erfahrungen zusammengestellt hatte, die sie für ihr eigenes Wachstum zu durchleben gewillt war. Sie war ganz tief in sich hineingegangen und hatte dort dieses unbändige Verlangen, diese unstillbare Absicht zu wachsen gefunden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgend etwas sie davon abhalten könnte, die nächsten Schritte auf ihrer Entwicklungsspirale zu tun – alles würde sie auf sich nehmen, wenn sie nur endlich

wuchs! Neben jedem Ereignis auf der Liste hatte sie sorgfältig vermerkt, welche Mitspieler sie jeweils für die erforderlichen Rollen brauchen würde und mit wem sie einen Vertrag darüber abschließen musste.

Dann meldete Abigail sich im Büro ihres *Engel-Laufbahnberaters*. Sie präsentierte ihrem Berater sowohl die Liste mit den geplanten Erlebnissen als auch die Auflistung aller erforderlichen Mitspieler.

Der *Engelberater* vertiefte sich in die Liste und las sie aufmerksam durch. Dann hob er den Kopf und musterte den winzigen Engel nachdenklich. „Abigail, deine Liste hat es aber ordentlich in sich! Und du bist absolut sicher, dass du wirklich durch all diese Schrecken, alle die Tränen und die Trauer und die Verzweiflung hindurch willst, nur damit du schneller wächst? Du weißt, es gibt auch andere Möglichkeiten zu wachsen – wir sprechen ja nicht zum ersten Mal darüber!“

Abigail antwortete: „Ja, das ist wahr, wir haben schon öfter darüber gesprochen. Aber dies hier sind alles hilfreiche Erfahrungen, die ich dringend brauche, damit ich meine jetzigen Engelziele erreichen kann.“

„Ich verstehe“, sagte der *Berater-Engel*, „schließlich war auch ich einmal ein kleiner Engel. Du erinnerst dich aber noch an deine letzte Erfahrung, nicht wahr?“ setzte er seine Befragung fort.

„Ja“, gab Abigail zu, „aber dies hier ist wirklich wichtig für mich. Bitte helfen Sie mir dabei, damit ich das tun kann!“

„Abigail, ich werde dir helfen, so gut ich irgend kann. Nur – für uns hier wird es sehr schwer sein mit anzusehen, wie du durch diese Liste der Schrecken gehst, die du dir da ausgearbeitet hast!“ stellte der *Engelberater* fest. Und er mahnte noch einmal zur Vorsicht: „Wenn du erst auf der Erde bist, dann bist du an den Vertrag gebunden und musst wirklich da hindurch, denn ein Zurück gibt es dann nicht mehr. Hast du das auch wirklich gut verstanden?“

„Ja, das ist mir klar“, antwortete Abigail und fühlte, wie die Anspannung allmählich in ihr wuchs. „Aber ich kann es schaffen!“

„Und du weißt auch, dass es noch eine alternative Möglichkeit gibt, nicht wahr, Abigail? Du könntest zum Beispiel für jemand anderen ein Schutzengel sein. Auch das würde dir die Gelegenheit zum Wachstum und zu irdischen Erfahrungen geben!“ wandte der Engelberater noch einmal ein.

„Weiß ich“, sagte Abigail. "Aber es dauert dann viel länger mit dem Wachsen als bei diesem Weg hier! Wachstum ist für mich jetzt am allerwichtigsten!"

„Okay. Dann geh und sammele deine Mitspieler ein und sag ihnen, sie sollen einen Termin bei mir machen!“ Der *Berater-Engel* musste sich seine Zustimmung förmlich abringen.

„Vielen, vielen Dank! Ich wusste, dass ich mich auf Ihre Hilfe und Unterstützung verlassen kann!“ freute sich Abigail.

„Da wäre noch eine Sache, Abigail“, hielt der *Berater-Engel* den kleinen Engel noch zurück. „Ich selbst werde mich freiwillig als einer deiner Schutzengel melden. Zumindest kann ich dir dann die Liebe schicken, die du so sehr verdienst, selbst wenn du dich weder an dieses Gefühl noch an mich erinnern kannst, solange du dort bist! Abigail – dir ist doch klar, wie schwer es uns fallen wird, mir und all denen, die du ausgewählt hast, das alles mit anzusehen …?“

Abigail schaute ihrem Engelberater in die Augen. „Ja. Dass Du bei mir sein wirst dort, das bedeutet mir sehr viel. Ich weiß, es wird mir helfen. Danke!“

„Abigail, die Materie ist so dicht auf der Erde und deine Erinnerung wird vollkommen vor dir verborgen sein, wie hinter einem dichten Schleier, aber ich versichere dir, ich werde tun, was immer in meiner Macht steht, damit du dich erinnerst!“ versprach der *Berater-Engel* noch.

Abigail lächelte, aber sie wirkte noch ein bisschen angespannter, als sie ihr Dankeschön wisperte.

Alle geplanten Mitspieler fanden sich nach und nach im Büro des *Berater-Engels* ein und erklärten sich traurig mit den ihnen zugedachten Rollen einverstanden. Sie alle hofften immer noch, Abigail würde ihre Meinung noch ändern und mindestens die Hälfte von ihrer Erfahrungsliste streichen. Niemand wollte wirklich die für ihn vorgesehene Rolle spielen, sie alle redeten fieberhaft auf Abigail ein und versuchten, sie davon abzubringen. Keiner von ihnen war sich sicher, ob Abigail überhaupt ahnte, zu was sie sich da verpflichtete. Aber weil sie den kleinen Engel alle so sehr liebten, stimmten sie schließlich schweren Herzens zu. Die Rollen, die die meisten von ihnen zu spielen hatten, waren abscheulich und gemein, und niemand wollte das eigentlich. Aber sie verstanden Abigails Sehnsucht nach Wachstum, und daher akzeptierten sie es schließlich in bedingungsloser Liebe.

Abigail nahm mit ihrer künftigen irdischen Mutter über deren spirituelles Selbst Kontakt auf. Ein Geburtsvertrag wurde geschlossen und das irdische Datum dafür festgesetzt. Die spirituellen Essenzen aller bereits auf der Erde befindlichen Mitspieler wurden ebenso kontaktiert und unter Vertrag genommen.

Der Zeitpunkt für Abigails Abstieg in die Materie war gekommen. Ein letztes Mal verhandelten alle mit Abigail und flehten, sie möge ihnen doch den Vertrag erlassen – aber es nützte nicht das Geringste. Wer nicht bereits auf der Erde war, stellte sich in einer Reihe auf, um sich alle seine Erinnerungen tief verschleiern und anschließend den kleinstmöglichen Anteil seiner Essenz vom Großen Selbst abtrennen zu lassen. Und sie alle erlebten, wie dieses winzige Teilchen ihrer wahren Essenz hinaus in die Dunkelheit geschleudert wurde – es fiel und fiel und fiel und wurde dabei immer schwerer und schwerer, bis es schließlich in sein materielles Gefäß, in seinen biologischen Körper eintauchte.

Abigails Schutzengel und die Schutzengel aller Mitspieler hatten bereits auf ihre Ankunft gewartet. Und so konnten ihre Erfahrungen auf der Erde beginnen.

Abigails spirituelle Familie und ihre Schutzengel schwebten um eine von Hunger geplagte aidskranke Mutter herum, die gerade im Begriff war, ihr siebtes Kind zur Welt zu bringen. Alle sechs Kinder waren ihr gestorben, denn die Mutter konnte nicht einmal sich selbst ernähren, geschweige denn ihre Kinder. Diese Mutter lebte in einer der gewalttätigsten Gegenden der Erde.

So kam also Abigail als Kind einer an AIDS erkrankten Mutter zur Welt, und diese gab ihr nach der Geburt den Namen Mary. Mary war selbst mit dem Virus infiziert. Die Mutter nahm dieses winzigkleine, halbverhungerte Baby in die Arme, drückte es an sich und konnte einfach nur weinen. Die Mutter sah ihr noch feuchtes Neugeborenes voller Liebe an und sagte: „Weißt du, ich kann dich nicht füttern, und ich bin selbst so krank. Ich weiß nicht, was aus Dir werden soll, aber vielleicht überlebst du ja.“ Und eine Träne rollte über ihre Wange und benetzte Marys kleines, nasses Gesichtchen.

Mary schrie und schrie, hungrig, nass und voller Angst. Ihre spirituelle Familie und ihre Schutzengel versammelten sich ganz dicht um sie und sandten ihr Liebe. Alle Essenzen der Höheren Selbste sahen zu und sandten ihr ebenfalls ihre Liebe. Es schien so, als würde sich Mary ein wenig beruhigen, aber das hielt nur für wenige Augenblicke vor. Dann begann sie wieder zu weinen.

Soldaten hörten das Babygeschrei und traten die Kiste beiseite, unter der Marys Mutter während der Geburtswehen Schutz gesucht hatte. Die Mutter töteten sie mit einem einzigen Schuss. Das wenige Minuten alte Neugeborene packten sie an einem Beinchen, äußerten etwas wie „noch so ein Mädchen – das fehlt gerade noch“ und schleuderten es gegen eine Mauer. Marys winziger Kinderkörper wurde schlaff. Die Soldaten kümmerten sich nicht weiter darum, ob Mary tot war oder nicht und gingen weiter. Ihr spirituelle Familie und ihre Schutzengel aber schwebten ganz nah an sie heran, Marys Höheres Selbst sandte starke Strahlen der Liebe. Sie versuchten sie mitzunehmen, aber Mary klammerte sich an ihr irdisches Leben und wollte nicht loslassen. Da sandten sie ihr Liebe und weinten um sie und sandten ihr noch mehr

Liebe.

Eine alte Frau bog um die Ecke und als sie das Baby sah, nahm sie es auf. Sie hüllte es in ihr Schultertuch und nahm es mit. Füttern konnte sie Mary nicht, aber sie konnte sie ein paar Augenblicke lang in den Armen halten und ihr Liebe geben. Dieses arme kleine Mädchen tat ihr so unendlich leid. Es war kein Leben für Frauen in diesem Land, das von Hass überschwemmt war.

Die alte Frau brachte Mary zu einer Gruppe anderer Frauen, die um ein Lagerfeuer saßen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Eine von ihnen hatte gerade ihr eigenes Baby verloren, das sie selbst gestillt hatte. Sie nahm das schlaffe kleine Mary-Bündel auf den Arm und versuchte das Baby zu säubern, so gut sie es ohne Wasser eben vermochte. Sie begann leise zu singen und wiegte das Kleine hin und her. Mary öffnete schließlich die Augen. Die freundliche Frau schenkte ihr ein Lächeln, dann gab sie ihr die Brust und Mary schlief ein. Marys Höheres Selbst ließ sie nicht aus den Augen und schickte Liebesstrahlen hinunter, während ihre spirituelle Familie und ihre Schutzengel niemals von ihrer Seite wichen.

Marys Leben verbesserte sich auch danach nicht, sondern eine schreckliche Erfahrung folgte auf die andere. Marys Höheres Selbst strahlte unermüdlich Liebe auf sie herab, und immer waren ihre Schutzengel bei ihr, genau wie ihre spirituelle Familie. Sie sandten ihr Liebe, sie verließen sie niemals. Sie besuchten sie in ihren Träumen und versuchten beständig, Marys Erinnerung wachzurufen, damit sie wieder wusste, wer sie waren und dass sie jedes einzelne ihrer schrecklichen Erlebnisse selbst geplant hatte.

Mary aber fühlte sich einfach nur allein, traumatisiert und in ständiger Angst gefangen. Ihr Leben währte zwar im Verhältnis zu vielen anderen der Dorfbewohner nur kurz, 15 Jahre, aber das tat nichts zur Sache. Tag für Tag erwachte Mary und wünschte, sie wäre tot. AIDS hatte ihren Körper fast völlig zerstört. Sie hatte Hunger, sie war krank, sie fühlte sich von niemandem geliebt. Marys Höheres Selbst sah das alles und strahlte Liebe herab, ihre Schutzengel und ihre spirituelle Familie waren immer da und schickten ihr Liebe. Sie ließen nicht nach in ihren Bemühungen, den Kontakt mit ihr herzustellen, und sie bedienten sich dabei der äußersten Mittel, die das Universelle Gesetz des Freien Willens gerade noch zuließ. Aber kein Funke der Erinnerung dämmerte.

Der Augenblick kam, als sie ihren letzten irdischen Atemzug tat. Marys Höheres Selbst sah zu, strahlte Liebe und freute sich auf die Wiedervereinigung, Ihre Schutzengel und ihre spirituelle Familie waren die ganze Zeit über niemals von ihrer Seite gewichen. Erst als sie ihren letzten Atemzug tat, da glomm ein Funke des Wiedererkennens in Mary auf, als nämlich ihr Schutzengel (ihr ehemaliger Berater-Engel) mit ihr sprach und ihr erklärte, was da vor sich ging und dass es Zeit sei, nach Hause zurückzukehren.

Sie lächelte und wandte ihm ihr Gesicht zu, dann begann sie mit ihm zu reden. Die

paar Menschen, die sich um ihren sterbenden Körper versammelt hatten, konnten sich nicht erklären, warum sie lächelte und mit wem sie da zu sprechen versuchte.

Die Engel und ihre spirituelle Familie scharten sich um ihre winzige Essenz, als diese das Gefäß der Materie verließ und die Rückreise antrat, um sich wieder mit der Hauptessenz ihres Höheren Selbsts zu vereinen. Ihr *Berater-Engel* (der ehemalige Schutzengel) erklärte ihr: „Abigail, du wirst eine Zeit der Stille und der Reflexion brauchen, um das zu verarbeiten und in dich aufzunehmen, was du während dieser Inkarnation erlebt hast. Es ist also vollkommen in Ordnung, wenn du jetzt nicht sprechen möchtest. Wir sind so überaus stolz auf dich! Du hast tatsächlich getan, was du geplant hattest und du hast dein Bestes gegeben. Du hast dir wahrlich das Wachstum verdient, nach dem du so verlangt hast auf dieser Reise!“

Abigail lächelte, sah ihren *Berater-Engel* an und sagte: „ Weißt du, während ich mitten drin war, schien es mir überhaupt nicht so traurig zu sein wie während der Rückschau, als ich es mit meinen spirituellen Augen noch einmal an mir vorbei ziehen ließ! Du hattest so Recht damals – bevor ich ging, hatte ich gar nicht richtig begriffen, wie viel Trauma ich tatsächlich für mich eingeplant hatte. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Auf der Erde habe ich manchmal im Traum gemerkt, dass ihr versucht habt, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich habe jedes Mal versucht, einen Schritt in Eure Richtung zu tun – und dann war der Moment auch schon wieder vorbei.“

Sie sah hinüber zu all den anderen, die ihren Rollenvertrag zu ihrem Drama mit ihr abgeschlossen hatten und sagte: „Ich möchte Euch danken dafür, dass ihr das für mich getan habt! Und ich möchte, dass Ihr mir verzeiht. Ihr habt das getan, weil ihr mich liebt. Ich konnte dadurch mein Wachstum bewerkstelligen, und dafür bin ich euch allen zutiefst dankbar! Niemand nennt mich jetzt mehr *die winzige Abigail*, denn ich bin in dieser Zeit unglaublich gewachsen